Von Lawine mitgerissen, vom Schutzengel gerettet

SchutzengelEs ist Mittwochmorgen, wir sitzen in der Gondel hinauf zum Mölltaler Gletscher. Herrlich strahlt die Sonne über den Hauptkamm der österreichischen Zentralalpen. Von Ferne leuchten in der Vormittagssonne Großglockner und Sonnblick.

„Ein wunderschöner Tag“, sage ich zu den KJB’lern, mit denen ich in der Achterkabine sitze. „Der liebe Gott meint es gut mit uns“ − „Ja, so ein schöner Tag. Man muss immer froh sein, wenn es schön ist und nix passiert“, sagt Theresia. Ich stimme zu und wie durch einen inneren Antrieb sage ich: „Wisst ihr was? Eigentlich sollten wir beten, dass nichts passiert, man kann nie wissen.“ Alle drei pflichten mir bei. Wir beten auf der Fahrt nach oben „Unter deinen Schutz und Schirm“ und rufen die drei heiligen Erzengel Michael, Gabriel und Raphael an. Die zwei Mitfahrer sind Ausländer, sie verstehen kein Deutsch. Aber auch einem deutschsprachigen Gast, der in diesem Augenblick aus der Gondel geblickt hätte, wäre es nicht verständlich gewesen. Warum betet ihr? Es ist strahlender Sonnenschein, die Pisten sind super präpariert, was soll da passieren?

Wäre ich in diesem Augenblick in der Lage gewesen, die Ereignisse der nächsten Stunde zu sehen, ich hätte sie selbst nicht für möglich gehalten.

Dreißig Minuten später haben wir schon eine erste Abfahrt hinter uns. Traumhafter Schnee, der Mölltaler Gletscher ist ein herrliches Skigebiet an der Südseite der Alpen. Wir fahren zum zweiten Mal nach oben, stehen unter dem Gipfel 3122 Meter hohen Schareck und sind natürlich schon in Gruppen aufgeteilt. Die sieben besten Fahrer sind zusammen. „Komm, wir fahren den Funpark“, sage ich. „Nein, lasst uns Tiefschnee-Fahren“, ist aber die Meinung der Gruppe.

Also gut. Von der Bergstation queren wir hinüber zum Tiefschnee-Hang. Es handelt sich um eine Piste im freien Gelände, die nicht von der Raupe präpariert worden ist. Der Hang ist für Tiefschneefahrer freigegeben, weiter oberhalb, vom Gipfel circa 100 Meter herablaufend, findet sich eine Absperrung. Wir halten uns an diese Vorgabe und fahren in den offenen Bereich hinein und blicken nach unten, um die beste Abfahrt zu wählen. Deswegen entgeht uns, was sich etwa 50 Meter über uns abspielt. Von dort werden in den nächsten Momenten die Ereignisse ihren Lauf nehmen. Drei fremde Snowboardfahrer missachten die Absperrung. Sie wollen den schönsten, unberührten Tiefschnee haben und durchfahren die Absperrung weit oberhalb, direkt unter dem Gipfel. Eine verhängnisvolle Aktion, was sie aber noch nicht ahnen.

Nur einige Minuten später: Unsere ganze Gruppe steht zur Abfahrt bereit, alle an etwas verschiedenen Positionen, manche weiter unten, manche weiter vorne in Richtung Herzog-Ernst Spitze. Da plötzlich passiert, was eine Skifahrerin schon vorausgeahnt hatte, wie uns ihr Freund später berichtet: Die Snowboardfahrer treten eine Lawine los.

Während ich noch nach unten schaue, um eine schöne Fahrlinie zu suchen, höre ich einen Schrei von Niko: „Achtung Lawine“. Ich drehe mich um, sehe eine Schneewelle auf mich zurasen. „Weg hier“, schreie ich – so hat es mir Bernadette zumindest nachher gesagt. Ich weiß selber nicht mehr, was ich gerufen habe, denn ich wollte nur eins: Mit den anderen entkommen. Bernadette und ich standen etwa in gleicher Höhe. Wir versuchen, sofort loszufahren, aber das ist völlig aussichtslos. Lawinen rasen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 200 km/h ins Tal. Wir kommen keine zwei Meter weit. Mit unglaublicher Wucht holt uns das Schneebrett ein, das von den fremden Snowboardern losgetreten wurde. Wir haben keine Chance, es ist eine Naturgewalt, die auf uns trifft und uns mitnimmt, als wären wir Streichhölzer. Wir verlieren alles, Ski, Stöcke, Haube…

Ich wurde nachher oft gefragt, wie es sich anfühlt, in eine Lawine zu kommen. Das kann man nicht beschreiben. Man hat sofort alles voller Schnee, den Mund, den Rachen, man ringt hektisch um Luft. Man verliert den Boden unter den Füßen und versinkt. Dann spürst du, wie die Schneemassen dich wälzen und schieben, drehen und rollen, als wärest du ein Spielzeug der Natur. Du verlierst jede Orientierung, ob und unten haben keine Bedeutung mehr, das gleißende Weiß des Schnees ist überall. Und man hat eine panische Angst: Bitte nicht nach unten gedrückt werden, bitte nicht im Schnee eingemauert werden um am Ende unter Tonnen von festgedrücktem Schnee bewegungslos zu ersticken. Bitte nicht! Himmel hilf! Ich merke, wie ich zwar gewälzt werde, aber einigermaßen an der Oberfläche bleibe, weil es um den Kopf herum hell bleibt. Ich spreize mich, versuche mit dem Rücken gegen den Schnee anzudrücken, eine breite Fläche zu machen. Aber es ist natürlich wie das Zappeln einer Ameise. Endlich wird der Schnee weniger. Ich komme zum Stehen. Als ich gerade aufatmen will, trifft mich die zweite Welle. Wo kommt die her? Das haben mir die Experten erst später erklärt: Als die Snowboardfahrer das erste Schneebrett losgetreten haben, rutscht dieses nach unten. Dadurch entsteht natürlich ein Leerraum, und der Restschnee, der hinter den Snowboardern noch am Gipfel lag, rutscht nach. Die zweite Welle ist in Gang und nimmt auch die Verursacher mit, sodass auch diese Teil der von ihnen selbst ausgelösten Naturgewalt werden.

Doch auch nachdem ich wieder im Sog der zweiten Welle versinke, wie ein Stück Treibholz auf dem Wasser, bleibe ich – Gott sei es gedankt – an der Oberfläche. Endlich Stillstand. Ich stecke bis zur Hüfte im Schnee, arbeite mich heraus. Dann kommen jene Sekunden und Minuten, die für mich die schlimmsten waren. Wo sind die Jugendlichen? Ich sehe links von mir einen fremden Mann. Und sonst niemand. Erst dann erblicke ich schräg ober mir Bernadette und höre die Stimme von Benedikt. Aber seine Stimme geht durch Mark und Bein. „Luky! Luky!“ So schreit er unaufhörlich und aus ganzer Kraft. Wo sind die anderen? Unsere Gruppe besteht aus sieben Leuten. Ich stimme in sein Schreien ein, rufe die anderen Namen mit. Diese Sekunden vergehen wie in Zeitlupe. Stoßgebete und die schlimmsten Gedanken hämmern durch meinen Kopf. Was, wenn ihnen etwas zugestoßen ist? Dann, endlich, nach fünf Minuten – fünf Minuten, die eine Ewigkeit waren – sehe ich weit unten, dort wo die Lawine einen gewaltigen, viele Tonnen schweren Schneekegel gebildet hat, jemanden winken. Es ist Josef, er ist wohlauf. Ich schreie die Frage nach unten, ob Lukas bei ihm ist. Er winkt und gibt Zeichen: „Ja!“. Niko und Tobias sind schon zuvor aufgetaucht, sie sind weiter oberhalb. Ein zentnerschwerer Stein, der mindestens so schwer ist, wie die Schneemassen der Lawine, fällt von meinem Herzen.

Wir verlassen den Lawinenkegel nach außen, dort rede ich mit dem fremden Mann, der sich sehr fürsorglich zeigt und uns fragt, ob unsere Gruppe vollständig ist. Gleichzeitig aber bemerke ich, wie sich drei Personen schnell von der Lawine entfernen und das Weite suchen. Sie reden mit niemanden, kümmern sich um keinen, rutschen in Windeseile nach unten und verschwinden. Erst viel später wurde im Gespräch mit den Bergrettern klar: Das waren die Auslöser der Lawine. Von der zweiten Welle wurden sie ebenfalls erfasst und kamen in der Mitte, in meiner Nähe zum Stillstand. Daraufhin sind sie verschwunden und haben sich auch später, bei der Suchaktion, die bis in die Abendstunden anhielt, sich nicht mehr gemeldet.

Endlich sind alle unten am Kegel der Lawine angekommen. Wir fallen uns in die Arme, wir beten, die Augen sind feucht. Jeder erzählt, wie es ihm ergangen ist, die Schilderungen sind alle ähnlich. Am Ende beschreibt jeder das Wundersame: Keiner ist unter der Lawine zu liegen gekommen, jeder konnte sich selbst aus dem Schnee befreien, sechs Jugendliche und ich. Aber nicht nur unsere Gruppe, auch der fremde Skifahrer mit seiner Frau blieben unverletzt, ebenso wie die drei Snowboardfahrer, welche die Lawine abgetreten haben.

Die anderen KJB’ler treffen wir später im Panorama-Restaurant wieder. „Wir feiern heute unsern zweiten Geburtstag“, sage ich. Meine Knie zittern. Das Fernsehen ist da. Sie wollen ein Interview, sie wollen wissen, wie es ist, in eine Lawine zu geraten. Ich verwehre jede Aussage, auch später, als sich zwei österreichische Tageszeitungen melden. Wahrscheinlich haben Sie meine Handy-Nummer von der Polizeidienststelle, wo ich den Hergang schildern musste. Die Verursacher, jene drei Snowboarder, sind jedoch bis heute nicht aufgetaucht. Manche Zeitungen titeln: „Wiener Priester und Jugendgruppe in Lawine gerettet. Schutzengel hilft!“ Abends, als wir heimfahren, sind noch immer die Rettungshubschrauber vor Ort, Hundestaffeln suchen nach eventuell Verschütteten. Die Pisten des Gletschers sind ja so nah, wer kann da wissen, ob nicht ein einzelner Skifahrer auch betroffen war. Im Radio und in den Fernsehnachrichten kommt spät abends schließlich Entwarnung: Bei der Mölltaler Lawine am 2. Jänner wurde wie durch ein Wunder niemand verschüttet oder verletzt.

Am nächsten Tag ist unser Programm klar: Dankeswallfahrt nach Heiligenblut, dem Wallfahrtsort am Fuß des Großglockners, etwa vierzig Kilometer von unserem Quartier in Lienz entfernt. Fünf Kilometer vorher machen wir Halt und gehen zu Fuß um den Dankesrosenkranz gemeinsam zu beten. In der Wallfahrtskirche wird seit dem Mittelalter eine Blutreliquie verehrt. Dort beten wir die KJB-Gebete und halten Betrachtung. Einfach nur danken, Gott danken, den Schutzengeln und den Erzengeln.

Warum ich diesen Bericht überhaupt schreibe? Um Euch liebe KJB’ler zu bitten: Beginnt keine Freizeitaktivität, so schön sie auch sein mag, ohne ein Gebet zur Gottesmutter und zu den heiligen Schutzengeln. Ich bitte Euch darum! Auch wenn euch so vorkommt: Ach, das ist doch eine sichere Sache, da kann nichts passieren. Als wir auf den Gletscher fuhren, dachten wir auch: Lawinengefahr besteht nur für Tourengeher, niemals für ein Pistenskigebiet, wo jeden Tag hunderte Skifahrer auch die freigegebene Tiefschnee-Piste fahren. Aber so war es nicht und es kommt schnell anders. Wir haben das an jenem 2. Jänner 2015 selbst gesehen. Gottes gütige Vaterhand und die drei heiligen Erzengel haben uns gerettet.
Ihnen widme ich diesen Bericht.

P. Andreas Steiner